Geschichte vor 1945

Funde von geschliffenen Flachbeilen und Bruchstücke von Tongefäßen mit Kerbleisten als Randverzierung deuten auf eine jungsteinzeitliche Siedlung hin. Diese Siedlung dürfte aber untergegangen sein, denn aus der Kelten- und Römerzeit finden sich auf Seitenstettner Gemeindegebiet keine Spuren menschlicher Behausung. Die eigentliche Rodung und Besiedlung zunächst durch slawische (Treffling, Winden), dann durch deutsche Siedler ist erst im 10./11. Jahrhundert erfolgt.

Im Jahre 1109 (erste Erwähnung) stiftete der edelfreie Udalschalk von Stille und Heft (Oberösterreich) mit seinem Schwager ein Kanonikatstift in St. Veit. Diese Gründung hat sich aber nicht bewährt. Daher gründete Udalschalk in Seitenstetten 1112 ein Benediktinerkloster und schenkte ihm den Großteil seines Besitzes. Benediktinermönche aus Göttweig besiedelten das Kloster und der Passauer Bischof weihte 1116 die Stiftskirche. Der wirtschaftlichen Sicherung des jungen Klosters dienten die Pfarren Aschbach und Wolfsbach. Erzbischof Wichmann von Magdeburg, der letzte Spross der Grafen von Seeburg und Gleiß, schenkte das ganze Gebiet der Pfarre Ybbsitz dem neu gegründeten Kloster. Vom ältesten Klosterbau, der um 1250 abbrannte, ist nur mehr die romanische Ritterkapelle erhalten geblieben. Nach einem Streit mit dem Bistum Freising musste Seitenstetten auf die Pfarrrechte über Waidhofen an der Ybbs und Hollenstein an der Ybbs verzichten.
Die Melker Reform wirkte sich positiv auf das religiöse Leben im Kloster und in den Pfarren sowie auf das Interesse für Wissenschaft und Kunst aus. Zeugen einer regen Bautätigkeit in den stiftlichen Pfarren sind die spätgotischen Kirchen.
Um die Kosten für Ungarn- und Türkenkriege aufzubringen, belastete der Landesfürst auch das Kloster Seitenstetten mit so hohen Steuern, dass es in rote Zahlen geriet.
Die Reformation drang bis in das Innerste des Klosters vor. Die Prälatenhochzeit ist das auffallendste Kennzeichen für den Niedergang des klösterlichen Lebens. Abt Christoph Held leitete gegen unruhige Bürger, aufständische Bauern (1596/97) sowie protestantische Pfarrer und Schlossherrn der Umgebung die katholische Erneuerung ein. Der Renaissanceabt Kaspar Plautz ließ das Gnadenbild der Heiligsten Dreifaltigkeit auf dem Sonntagberg beim Zeichenstein anbringen (1614). Eine Marmortafel beim Eingangstor zum Historischen Hofgarten erinnert daran, dass unter dem gebildeten Abt, der großes Interesse an Entdeckungsfahrten und exotischen Pflanzen zeigte, im Hofgarten Kartoffeln eingelegt wurden.
Erst als die stiftliche Wirtschaft saniert war, konnten sich die Äbte der baulichen Umgestaltung des Klostergebäudes zuwenden. Unter Abt Gabriel Sauer wurde an die Kirche die Sakristei (1673) und die Gruftkapelle angebaut, der Hofkasten, also der Vorgängerbau der heutigen Apotheke, errichtet, und am Rande des Stiftswaldes in der Treffling für die Holzarbeiter des Stiftes die sogenannte Holzhackerstadt angelegt.

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Winteransicht von 1918
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Ott von 1928
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Derfler um 1920

Zu den bedeutendsten Äbten zählt Benedikt Abelzhauser (1687-1717). Seine besondere Sorge galt der Stiftskirche, die er mit barocken Altären und einem Gemäldezyklus in den Deckenfeldern ausstattete. Auch das Hauptportal der Stiftskirche und der Marienbrunnen in der Mitte des großen Stiftshofes wurden damals gestaltet. Dem frommen Mann verdanken wir die barocke Wallfahrtsbasilika auf dem Sonntagberg, mit deren Bau er den berühmten Barockbaumeister Jakob Prandtauer beauftragte. Sein äbtlicher Nachfolger, Ambros Prevenhueber (1717 – 1729) entschloss sich nach den Plänen des Baumeisters Josef Munggenast das Stiftsgebäude völlig neu aufzubauen. Das Kloster ist in seiner baulichen Grundidee als großer Vierkanthof (160 x 90 m) angelegt, in dessen Zentrum die Kirche steht. Unter Abt Paul de Vitsch führte Johann Gotthard Hayberger bis 1747 den Klosterbau zu Ende. Für die innere Ausgestaltung der Repräsentationsräume gewann man bedeutende Künstler: Paul Troger malte die Deckenfresken im Abteisaal und in der Bibliothek, Bartolomeo Altomonte den Triumph des hl. Benedikt über der Abteistiege. Auf Initiative des Abtes gingen damals zwei Bergwerksbetriebe, das Kupferbergwerk in der Radmer/Stmk. und das Messinghüttenwerk in Reichraming/OÖ. in den Besitz des Stiftes über. Die beträchtlichen Erträgnisse aus den beiden Industrieunternehmen wurden weitgehend zur Finanzierung der kunstvollen Innenausstattung des Klosters verwendet. Johann Martin Schmidt, der „Kremser Schmidt“, malte die großartigen Tafelbilder für den Maturasaal, ehemals Gästespeiseraum, und für das Sommerrefektorium, heute Fest- und Konzertsaal. Festliche Schulveranstaltungen, besonders die Schulschlussfeiern, finden im Promulgationssaal statt.
Nach dem Plan des Seitenstettner Benediktiners P. Joseph Schaukegl wurde auch ein neuer Meierhof (132 x 66 m) gebaut, der als Wirtschaftsgebäude der stiftlichen Eigenwirtschaft diente.
Um der drohenden Aufhebung durch Kaiser Joseph II. zu entgehen, förderte das Stift auf seinen Pfarren besonders die Seelsorge durch die Gründung neuer Pfarren (Sonntagberg, Öhling) und den Bau neuer Pfarrhöfe sowie das Schulwesen durch die Gründung neuer Schulen und die Errichtung neuer Schulgebäude. Die damals erworbenen Häuser des aufgehobenen Kartäuserklosters Gaming in Wien, heute Seitenstettnerhof, gehören zu den wichtigen Einnahmsquellen des Stiftes.
Während der Franzosenzeit waren Stift und Markt von den durchziehenden Truppen heftig bedrängt.
Die Klosterschule reicht sicher in das Mittelalter zurück und bildete nicht nur den Ordensnachwuchs heran, sondern war auch Bildungsstätte für die Adeligen der Umgebung. In der Reformationszeit büßte sie viel von ihrer Bedeutung ein.

Nachdem um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine theologische Hauslehranstalt für die Kleriker des Stiftes eingerichtet worden war, bemühte sich der Abt um die staatliche Anerkennung der Schule. Im Jahre 1814 erhielt das Stiftsgymnasium das Öffentlichkeitsrecht. Die auswärtigen Studenten wurden im stiftlichen Konvikt und in Kosthäusern des Marktes untergebracht.

Nach der Unterrichtsreform führte man zunächst nur die Unterstufe des Gymnasiums. 1866 wurde aber das achtklassige Obergymnasium eröffnet und 1870 die erste Reifeprüfung abgehalten. Diözesanbischof Joseph Feßler verlegte das bischöfliche Knabenseminar (Marianum) von Krems nach Seitenstetten (1871). Bedeutende Lehrer, Forscher und Sammler verliehen dem Öffentlichen Stiftsgymnasium hohes Ansehen, beispielsweise P. Robert Weißenhofer, P. Gottfried Frieß, P. Joseph Schock, P. Anselm Salzer.
Die Bauernbefreiung im Revolutionsjahr 1848 brachte nicht nur das Ende der stiftlichen Grundherrschaft, sondern auch die Befreiung von Lasten, Schutzfunktionen und Verwaltungsaufgaben. Obwohl das Stift auf die Abgaben seiner bisherigen Untertanen verzichten musste und auf die Erträgnisse seiner Eigenwirtschaft eingeschränkt war, entwickelte sich die Wirtschaft durch Wald- und Grundstückskäufe günstig.

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Ansicht Höfler 1927
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Ansicht von 1899
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Ansicht von 1943

Auch die Zahl der Konventmitglieder wuchs bis 1900 ständig. Dadurch konnten die klösterlichen Pflichten und Aufgaben auf einen großen Konvent verteilt werden. Abt Theodor Springer (1920-1958) musste das Stift aus der schweren Wirtschaftskrise herausführen. Unter dem Druck verminderter Einkünfte und steigender Geldentwertung in der Nachkriegszeit sah man keinen anderen Ausweg als Handschriften, Frühdrucke und ein kostbares Elfenbeinrelief zu veräußern. Nachdem sich die wirtschaftlichen Verhältnisse gebessert hatten, gelang es Abt Theodor, der lange Zeit auch Präses der Österreichischen Benediktinerkongregation war, wieder Laienbrüder für den klösterlichen Dienst zu gewinnen, ein Juvenat für die Heranbildung des Klosternachwuchses und ein Sängerkonvikt ins Leben zu rufen. Mit der Neuordnung des Stiftsarchivs und des Archäologischen Kabinetts sowie mit der Freistellung von drei gelehrten Mitgliedern des Hauses für das akademische Lehramt leistete er einen bedeutenden Dienst an der Wissenschaft.
Nachdem Österreich seine Selbständigkeit verloren hatte (1938), kamen schwere Jahre für das Stift: drohende Aufhebung, Kriegsdienst vieler Mitbrüder, Schließung des Gymnasiums, Einquartierungen, totale Überwachung.

Wie das Gemeindewappen zeigt, sind Ort und Gemeinde Seitenstetten eng mit der Geschichte des Stiftes verbunden. Die Stifterfamilie, die wohl gegen 1100 nach Seitenstetten kam, siedelte vor allem im Trefflingtal Bauern an. Sie wies ihnen soviel Grund zu, dass sie und ihre Familien davon leben konnten. Für den Grundherrn mussten sie gewisse Abgaben und Arbeitsleistungen erbringen. Ein Großteil der Bauerngüter unterstand der Stiftsherrschaft. Daneben hatten auch andere Grundherrschaften (Gleink, Kröllendorf, Wallsee) hier einige Untertanen. Um 1300 dürfte die Rodungs- und Besiedlungstätigkeit im wesentlichen abgeschlossen gewesen sein.

In der geschlossenen Siedlung lagen die Betriebsstätten der Handwerker. Unter den Gewerbetreibenden, die häufig ein kleines Grundstück gegen Zinsleistung gepachtet hatten, befanden sich um 1400 Wagner, Fleischhauer, Schuster, Schneider, Schmiede, Weber, Bäcker, Bader u.a. Die wirtschaftliche Entwicklung ging aufwärts. Daher erhob Kaiser Friedrich III. auf Ansuchen des Abtes Kilian Heumader das Dorf Seitenstetten zum Markt (1480). Auch ein Wochen- und Jahrmarkt findet sich unter den Marktprivilegien. Die Bürgerschaft Seitenstettens erhielt unter einem Marktrichter weitgehende Selbstverwaltung. Auch die Äbte griffen zeitweise mit „Ordnungen“ in das Marktgeschehen ein. Fast der gesamte lokale Handelsverkehr spielte sich auf den Märkten ab. Kaiser Maximilian I. erweiterte das Gauhandelsprivileg seines Vaters und bezog den Markt Seitenstetten in die Gemeinschaft jener Städte und Märkte ein, die mit Getreide und Lebensmitteln die Versorgung des Eisenerzer Bergwerksbezirkes sicher stellen sollten.
Als eine Wohltat erwies sich die Stiftung des „Bürgerspitals“ für arme Stiftsangestellte und Stiftsuntertanen (1620).
Nach dieser Periode des Aufschwungs nach der Verleihung des Marktrechtes stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung. Es gibt in Seitenstetten keine Bürgerhäuser, die auf einen bürgerlichen Wohlstand schließen ließen. Es fehlte an größerem Grundbesitz und an besonderen Einkünften, wie etwa den Ybbsitzer Standesgenossen das Eisengewerbe bot. Das spätbarocke Hofrichterhaus, heute Cafe, das Johann Gotthard Hayberger errichtete, war im Besitz des Stiftes.
Das Stift als Grundherr hob nicht nur Abgaben ein, sondern war auch Wirtschaftspartner der Bauern. Es kaufte von ihnen überschüssiges Getreide, Vieh, Fleisch, Schmalz, Most u.a. und bot manche Arbeitsmöglichkeit zu bescheidenem Nebenerwerb. Die Stiftsverwaltung war durch Jahrhunderte der größte Arbeitgeber im Raume Seitenstetten.
Spürbare Rückschläge verursachten Überschwemmungen durch den unscheinbaren Trefflingbach oder durch einen Brand (1836), der nicht nur auf den stiftlichen Meierhof übergriff sondern auch sechs Häuser des Marktes einäscherte.
Vorübergehend war Seitenstetten Sitz des Bezirksgerichtes. Die Errichtung eines Postamtes (1850) und eines Gendarmeriepostens werteten den Markt auf.
Seit der Bildung der Gemeindestruktur amtierte statt des Marktrichters ein Bürgermeister. Die Bauernschaft baute sich eine eigene Verwaltung in der Dorfgemeinde auf. Aber erst nach dem Ersten Weltkrieg trat die Parteizugehörigkeit des Bürgermeisters zu Tage. Die Christlichsoziale Partei war die dominierende politische Kraft. In der Zwischenkriegszeit stattete politische Prominenz Seitenstetten ihren Besuch ab: Bundespräsident Wilhelm Miklas und die Bundeskanzler Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß.